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Stellt euch ein Haus vor, in dem 56 Mädchen im Alter von 5 bis 19 Jahren wohnen und für vier Tage auf sich allein gestellt sind.
Was denkt ihr, welche Herausforderungen könnten den Kindern begegnen? Welche könnten sie meistern? Woran könnten sie scheitern?
Ein Experiment, das als Erziehungsmaßnahme gedacht war und andere Folgen nach sich zog.
Angels Home, Marawilla 21.09. - 24.09.2024
Linus rief mich am Donnerstag (20.09.2024) ins Büro und fragte mich, ob ich es mir zutraue, mit den 56 Mädchen allein im Children's Home zu bleiben. Ich fragte: „Warum?" Linus: „Ich schicke alle Mitarbeiter*innen nach Hause. Wenn du dir das nicht zutraust, kannst du auch frei nehmen." Für mich war sofort klar: Ich bleibe. Linus meinte, es sei die letzte Möglichkeit und Idee, den Kindern zu zeigen, was sie an den Arbeitskräften haben. Wir hatten zuvor oft darüber gesprochen, dass die Kinder wenig Respekt und Wertschätzung gegenüber dem Personal und deren Aufgaben zeigen.
So kam Linus auf die Idee, dass die Kinder erfahren sollten, wie es ist, ohne die Unterstützung der Mitarbeiter zurechtzukommen. Er sagte: „Ich habe das schon einmal gemacht. Die Mädchen wissen genau, was sie zu tun haben. Und wenn etwas ist, können sie mich jederzeit anrufen. Du bist wirklich nur zur Beobachtung da." Ich: „Ok, das kriege ich hin." In meinem Kopf ging ich alle Aufgaben durch, die nun auf die Mädchen zukommen würden. Für mich war klar, dass das Kochen die größte Herausforderung darstellen würde – zumindest für mich wäre es das, für 56 Kinder zu kochen. Und das sollten jetzt 5- bis 19-Jährige übernehmen. Linus sagte voller Vertrauen: „Das schaffen die." Einige Mädchen kamen mit 5 Jahren ins Angels Home und behaupteten, sie wüssten genau, wie es in der Küche abläuft, weil sie zu Hause schon mitgeholfen hatten. „In anderen Heimen in Sri Lanka ist es normal, dass die Kinder ihr Essen selbst kochen müssen."
Am Freitagabend holte Linus sieben Mädchen (im Alter von 13 bis 17 Jahren) zu sich und erklärte ihnen den Plan. Achini sollte die Rolle von Linus übernehmen, Sachini die von Dahimi (Managerin) und Upeksha, Anne, Maheshika, Imasha, Shanika und Shanika „Big" sollten die Aufgaben der übrigen Mitarbeiter übernehmen.
Am nächsten Morgen wurde tatsächlich pünktlich um 6:30 Uhr die Glocke geläutet. Die „Mitarbeiterinnen" weckten die anderen Mädchen ruhig auf. Es dauerte etwa 15 Minuten, bis alle draußen waren – wie sonst auch. Nachdem sie den bereitgestellten Tee getrunken hatten, ging es direkt ans Fegen. Der Garten war, glaube ich, noch nie so schnell sauber. In der Küche bereitete Gruppe 4 (die Küchengruppe der Woche) mit Raini, Sachini und Achini das Frühstück zu: Reis und Sambol. Nach dem Abwasch wurde um 8 Uhr pünktlich das Frühstück serviert. Ich nutzte die Gelegenheit und fragte in die Runde, wer sich freut, dass sie nun allein sind. Na, was denkt ihr? Wie viele haben sich gemeldet? Richtig: alle 56 Mädchen. Es war übrigens das ruhigste Frühstück, das ich je miterlebt habe.
Danach erledigten die Mädchen tatsächlich auch die Aufgaben der beiden Reinigungskräfte. Fenster wurden geputzt, der gesamte Boden (innen und außen) gewischt.
In der Küche war ab 10 Uhr reger Betrieb, und die Mädchen bereiteten das Mittagessen vor: Reis, Rührei, Kartoffelcurry und Kürbis. Ich war fasziniert, wie harmonisch und abgestimmt die Mädchen in der Küche arbeiteten – als ob sie das täglich machen würden. Übrigens gibt es auch sonst jede Woche eine Küchengruppe, die die Köchinnen unterstützt. Sie kennen also den Ablauf, den Speiseplan, wissen, wie das Feuer angezündet wird und was sonst noch zu tun ist.
Das Mittagessen schmeckte fantastisch, und ich konnte keinen Unterschied zu sonst feststellen. Auch die Schärfe war genau richtig. Linus kam später vorbei, um die Lage zu checken. Er war überrascht, wie sauber alles war, und sehr stolz auf die Mädchen, dass alles so gut funktionierte. Die Schränke wurden kontrolliert und strahlten vor Sauberkeit. Das hieß: TV-Zeit am Nachmittag für die Mädchen. Das motivierte sie noch mehr, alles allein zu schaffen. Zur Teezeit gab es Kekse. Ich fragte Iresha, warum es schon wieder Kekse gab. Sie meinte nur: „Samstags gibt's immer Kekse" (eigentlich nicht). Nach weiterem Nachfragen stellte sich heraus, dass sie nicht wussten, wie man Rotti zubereitet. Nun, der Keksvorrat sollte noch für drei weitere Tage ausreichen. Die Mädchen waren also für die Teezeit der nächsten Tage gerettet.
Linus kam nachmittags nochmals vorbei und teilte den Mädchen mit, dass das Personal auch am Sonntag noch nicht zurückkommt. Jubel bei den Mädchen.
Abends wurde draußen improvisiert gekocht, weil das Licht an der Feuerstelle nicht funktionierte. Ich war wieder sprachlos und beeindruckt.
Das Beten fand an diesem Tag überpünktlich statt, und das Abendessen verlief glücklich. Man spürte, wie stolz die Mädchen auf sich waren. Fazit: Der erste Tag hat den Mädchen nicht unbedingt bewusst gemacht, welche Arbeit die Mitarbeiter leisten und dass ihnen mehr Respekt entgegengebracht werden sollte.
Der Sonntag verlief genauso reibungslos wie der Samstag, und die Mädchen fragten mich hoffnungsvoll, ob sie auch am Montag allein sein würden. Das sollte sich noch zeigen.
Linus kam um 12:30 Uhr zur Kontrolle. Die Mädchen fragten ihn, ob er zum Mittagessen bleiben wolle. Sie wollten ihm zeigen, wie gut ihr Essen schmeckt, und vielleicht auch etwas beweisen. Er stimmte natürlich zu. Die Mädchen wissen, dass er jahrelang als Koch gearbeitet hat. So viel Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten hätte ich manchmal auch gern. Linus bewertete das berühmte Sonntags-Chicken als sehr gut. Die Kartoffeln waren jedoch ziemlich fest – aber Sri Lanka ist schließlich ein Reisland.
Am Montag ging es mit der Küchengruppe zum Einkaufen. Das war ein Erlebnis, da die Mädchen darin noch nicht viel Erfahrung hatten. Sie zogen sich sogar extra dafür Kleider an.
Linus und ich sprachen später darüber, und er fragte mich: „Das läuft hier alles ohne Probleme, oder?" Ich: „Ja, das ist wohl nach hinten losgegangen." Aber ist es das wirklich?
Ich konnte am Samstag und Sonntag Zusammenhalt, Teamwork, Verantwortungsbewusstsein, Selbstbewusstsein, Freude, Vertrauen in sich selbst und ihre Schwestern, Harmonie und Respekt untereinander beobachten, wie ich es selten zuvor erlebt habe.
Auch der Montag wurde zum personalfreien Tag, und Linus bedankte sich bei den Mädchen mit Hähnchen, Pommes, Smarties und Schokokeksen. Natürlich auch mit lieben Worten, aber wir wissen, was bei den Mädchen besser ankommt. 😉
Da Linus keine halbe Sachen macht, hat er beschlossen, dass die Mädchen auch den Dienstagmorgen und somit einen „Schulmorgen" alleine meistern sollen. Um 5.05 Uhr hat die Glocke geläutet und die Mädchen sind mit Mühe aus dem Bett gekommen. Ich hab beim Wecken unterstützt, denn heute musste sich etwas beeilt werden. In der Küche wurde fleißig Reis und Dal gekocht, sowie Brote zum Teefrühstück geschmiert. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie viele Brote für 56 Kinder geschmiert werden müssen.(10 ganze Brote) Die anderen Mädchen haben den Garten gefegt. Nach dem Essen wurde sich gewaschen, Zähne geputzt, einzelne Uniformen noch gebügelt und dann ging es ans Haare machen. 6.45 kam Dizah (Fahrer und Hausmeister) und hat die eine Gruppe zur Schule gebracht. Um 7Uhr bin ich dann mit den anderen Mädchen zur Schule gelaufen. Auf dem Weg durfte ich dann auch meinen ersten Affen hier in Sri Lanka sichten.
Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die Mädchen den Gedanken dahinter wirklich verstanden haben, bin ich sicher, dass sie viel gelernt und mitgenommen haben. Ich für meinen Teil möchte die letzten Tage nicht missen. Mir wurde vor Augen geführt, wozu diese Mädchen in der Lage sind. Auch mein Vertrauen in sie wurde gestärkt.
Natürlich waren die letzten Tage auch gefüllt mit Tränen, Ängsten und anderen negativen Gefühlen, aber die Mädchen haben dieses „Experiment" mit Bravour gemeistert. Sie alle kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und tragen einen großen Rucksack mit sich. Trotzdem haben sie es geschafft, auf sich und aufeinander Acht zu geben, sich gegenseitig zu stützen und zu unterstützen. Diese 56 Mädchen – oder besser gesagt, diese Familie – kann gemeinsam Großes schaffen, da bin ich mir sicher.
Ich bin gespannt, was die nächste Woche mit sich bringt!
Bis dahin!
Nina